Mittwoch, 1. Oktober 2014


Neuntens - Meine Liebe zu mir
und zum Fohlen-Knaben auf dem Schrank

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Ein sehr langer, sehr rechteckiger Bücherschrank, Glas-Schiebetüren, viele Bücher, und oben auf dem dunklen Mahagoni-furnierten Schrank kleine und größere Figuren: eine hockende Frau, eine stehende Frau, fünf Tiere: Fohlen, Esel, Lämmchen. Aus Bronze gegossen, sagte meine Mutter. An der Wand dahinter ein paar Bilder, eines bunt mit einem Reiter mit Hunden und einem komischen Hut, ein anderes eher bräunlich mit Reitern auf der Jagd. Im Schrank Romane und große Bücher über  Kunst.

Zuerst habe ich das alles eher von unten angesehen, von unten, da ich klein war, vielleicht acht Jahre alt. Das war in unserem Wohnzimmer, wo die üblichen Wohnzimmermöbel standen . . . und eine gläserne Schiebetür mit zwei Flügeln nach draußen, die auf die Terrasse hinausführte. Garten, im Sommer Rosenbeete . . .

Ich ließ mir die Tier-Figuren reichen, vermutlich war meine Mutter stolz, daß ich so interessiert war. Es war ja ihre Freude an der Kunst. Sie war früher nach Berlin gefahren um diese Figuren auszusuchen und zu kaufen, in den 30er Jahren. Wo sie sie bekommen hatte, weiß ich nicht, habe nie gefragt, leider. Die Gestalterin der kleinen Tier-Bronzen Renée Sintenis war in jenen Jahren von den damaligen Herrschern des Landes nicht gerne gesehen und ihre Figuren wurden kaum öffentlich angeboten – habe ich viel später gelesen, Berufsverbot.

Eine ihrer Figuren auf unserem Schrank musste ich immer wieder in die Hände nehmen und abtasten: ein nackter Junge führte ein Fohlen, hatte seinen rechten Arm um den Hals des Fohlens gelegt, beide schritten aus. Schlank beide Körper, sehr schlank und von natürlicher Form und Grazie. Das Gesicht etwas verschwommen, nur der Mund abwartend, suchend, aufmerksam, ein wenig vorgestreckt. Das Gehen, der Körper, die schwarze Farbe, die unglatte Art der Künstlerin, die Figuren zu formen . . .
 



Nackt – das ist Freiheit – und Scham zugleich. Und das Tier im Arm, in die Freiheit ziehen. Hat Frei-Sein was mit Scham zu tun? Ich liebe diese kleine Figur von Renée Sintenis. Ich möchte keine Scham in mir haben, Scham ist Leiden, ich möchte „schamlos“ nackt in der Welt umher ziehen. Und diese geliebte Figur zeigt es mir. Es geht.

Mit 15 Jahren dann lebte ich für ein paar Wochen im kleinen Walddorf  Lauenstein beim alten Förster August Weck und seiner Frau Emeli. Das war eine einsame Gegend, und die Bergwälder des Ith waren weitläufig und auch mal dicht – dann wieder durchlässig für das Sehen und Gehen.

Oft lief ich allein in die Schatten der Wälder, nur mit einem weiten, grün-wollenen Cape bedeckt, in das ich meinen sehnsüchtigen Körper wickeln konnte, wenn mir mal kalt wurde. Barfuß, allein, wendig, schnell, kletterte auf Bäume und Felsen und genoß die Nacktheit unter dem Cape, und angelehnt an die starken Bäume. Die Rinde kratzte meinen Bauch und die Schenkel. Und genoß es, wenn Stürme oben auf dem Berggrat das Cape umherwehten und meine Haut kühlten und zum Schaudern brachten. Gänsehaut.

Immer musste ich an den Pferdejungen denken – endlich, geliebter Pferdejunge, habe ich es geschafft. Hätte ich nur hier bleiben können. Naturmensch, nein Natur-Junge. Im harten Winter nackt in Frost und Schnee leben, im heißen Sommer nackt in Hitze und Staub, im Gewitterregen das Cape an einen Baum gehängt und die Nässe auf der Haut, runterlaufendes Wasser, runterhängende lang-nasse Haare, Tropfen. Und die drohenden Blitze in der Nähe, das Donnern ganz dicht und ohrenschmerzhaft. Und von den Bäumen stürzende Äste, gefährlich? Und schreiende Krähen über den Bäumen im Sturm schaukelnd, genüsslich scheint es.

Geliebter Fohlen-Junge – du hast mir diese Wege gezeigt. Auf diese Weise war Renée meine Lehrerin, meine zweite Mutter, meine Kunstlehrerin, meine Naturlehrerin, ihre Liebe zu den Tieren, die nun ganz klein auf unserem Schrank standen. Hier auf dem Berg hätte ich eine Hütte oder eine Höhle haben mögen. Vielleicht einen kleinen Ofen – einfach weil ein Ofen etwas sehr Uriges ist. Waldhütte wie ich sie in alten Büchern gesehen habe, zusammen mit einem kleinen Pferd (denn ich war ja auch klein, immer noch). So wie der Fohlen-Junge, und Arm um seinen Hals nackt zusammen durch den Wald stromern. Und in den kleinen Stauteichen schwimmen (das Cape am Ufer abgelegt). Und hinterher schüttelt das Fohlen das Wasser aus seinem Fell und ich bekomme eine Dusche. Und dann kommt das Fohlen und leckt freundschaftlich das Wasser von meiner Haut – oh wie wohlig.

Und dann legen wir uns zusammen ins Vorjahreslaub (Fohlen müssen viel schlafen habe ich gehört – und 15-jährige Knaben auch, habe ich selbst erfahren), und ich schlinge meine nackten Beine um den Leib des Fohlens und fühle seinen felligen Rücken zwischen meinen sensiblen Schenkeln und an Glied und Hoden. Und lege mein Gesicht ganz dicht an seines, und spüre das leichte Schnauben aus der weichen Nase. Und lege das Cape über meinen Körper. Danke geliebtes Fohlen – auch wenn du zur Zeit noch aus kalter Bronze bist, du hast mich das innere Leben gelehrt. Du begleitest mich in meine Wach- und Schlafträume, das ist schon viel – und meine ganze Liebe breitet sich auf dich aus. Und du wirst mich mein ganzes Leben begleiten – bis ich dich einem anderen 15-jährigen Jungen unbemerkt zur Entdeckung hinstellen werde – er mag deine Nähe zur Entdeckung seines Körpers und seiner Liebe erfahren. Seiner Liebe zu seinem Körper und seiner Gefühle und seines Traum-Fohlens.

Einmal begegnet August Weck mir im Wald, weißhaarig, und ich sehe ihn nicht so schnell daß ich das Cape umschlingen könnte. August (wie ich ihn nennen darf) sieht meine Nacktheit und freut sich über mein Freisein, „so schöne Freiheit hätte ich auch gern.“ Doch von meinem Fohlen erzähle ich ihm nichts, nie, zu viel Scheu (oder doch Scham?). Zu viel Scheu, von meinen tiefen Gefühlen und Sehnsüchten nach außen zu geben.

„Auch bei uns in der Försterei brauchst du nur das Cape zu tragen, das ist echtes Mensch-Sein,“ sagt er noch und stapft weiter auf seiner Pirsch. Die Liebe zu dem Bronze-Fohlen und dem Fohlen-Knaben, erfunden und geformt von der großen Renée Sintenis in Berlin, erfüllt meinen Körper und meine Seele – bis heute, da ich fast 80 bin und weit weg von den Wäldern und Bücherschränken meiner Kindheit lebe.


die Ith-Wälder





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1 Kommentar:

  1. Ich wäre froh, wenn Silke Kettelhake hier etwas schreiben würde. Sie hat uns ein großes Buch über Renée Sintenis in ihrer Zeit geschrieben.

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